„Wer auffährt, hat Schuld“ oder „Wenn es hinten kracht, gibt´s vorne Geld“! In dieser Pauschalität einer von vielen Rechtsirrtümern, weit verbreitet und auch dieser hält sich hartnäckig. Zumindest gibt es einen wahren Kern, den sogenannten Anscheinsbeweis. Wie der Wortbedeutung schon entnommen werden kann: Bewiesen ist nichts, aber vermutlich war es so!
Der Anscheinsbeweis stellt eine Beweiserleichterung für denjenigen dar, der den Verkehrsverstoß seines Unfallgegners beweisen muss. Wer einen Anspruch (z. B. auf Zahlung von Schadenersatz) geltend macht, muss alle anspruchsbegründenden Umstände, also den Unfallhergang und die Verkehrsverstöße des anderen, die seinen Anspruch stützen, darlegen und beweisen.
Bestimmte typische Geschehensabläufe können meist – also nicht immer – auf eine typische Ursache zurückgeführt werden. Ein solch typischer Geschehensablauf wird in der Rechtsprechung dann angenommen, wenn z. B. ein Fahrzeug, das für eine „gewisse“ Fahrstrecke oder Fahrzeit einem anderen Fahrzeug nachfolgte, plötzlich auffährt, weil das vorausfahrende Fahrzeug verkehrsbedingt bremsen oder anhalten muss.
Dann wird im Wege des Anscheinsbeweises vermutet, dass der Nachfolgende – anscheinend – „geträumt“ hat, also unaufmerksam war oder wegen ungenügenden Sicherheitsabstandes nicht mehr rechtzeitig reagieren konnte. Kann der Auffahrende den typischen Geschehensablauf erschüttern, indem er etwa selbst beweisen kann, dass der Vorausfahrende kurz zuvor einen Fahrspurwechsel durchgeführt hat – ohne die Gefährdung des Nachfolgers auszuschließen – hätte er den zu seinen Lasten streitenden Anscheinsbeweis durch einen Gegenbeweis erschüttert. Die Behauptung allein reicht nicht. Der Fahrspurwechsel muss feststehen, also zugestanden, unstreitig oder bewiesen sein.
Da auch ein Verkehrsunfall in räumlichem und zeitlichem Zusammenhang mit einem Fahrspurwechsel als typischer Geschehensablauf (und damit als Anscheinsbeweis) zulasten des Fahrspurwechslers in Betracht kommt, muss in dem vorgenannten Beispiel jeder der beiden Unfallbeteiligten seine anspruchsbegründenden Umstände beweisen.
Anscheinsbeweis bei „rechts vor links“ Bekannte weitere Anscheinsbeweise greifen z. B. bei Kreuzungsunfällen an denen „rechts vor links“ gilt. Auch hier wird zunächst eine Vorfahrtsverletzung vermutet; der Wartepflichtige muss Umstände vortragen, die ihn entlasten (z. B. völlig überhöhte Geschwindigkeit oder Fahren bei Dunkelheit ohne Licht durch den Vorfahrtsberechtigten o. Ä.) oder der Unfall zwischen dem Linksabbieger und dem Überholer, wobei in diesen Fällen zunächst der Anscheinsbeweis zulasten des Linksabbiegers greift. Kollidiert dieser mit einem neben sich fahrenden (gerade überholenden) Fahrzeug hat der Linksabbieger anscheinend gegen seine zweite Rückschaupflicht verstoßen, denn hätte er sich unmittelbar vor dem Abbiegen nochmal – zum zweiten Mal – nach rückwärtigem Verkehr vergewissert, hätte er das Fahrzeug neben sich ja wahrgenommen und er wäre nicht abgebogen. Allein die Behauptung, rechtzeitig den Fahrtrichtungsanzeiger (links) gesetzt zu haben, hilft dem Linksabbieger nicht, denn vermutet wird nur sein Verstoß gegen die 2. Rückschaupflicht.
Die allgemeine Betriebsgefahr Kann sich ein Geschädigter auf einen Anscheinsbeweis stützen und gelingt dem Unfallbeteiligten nicht der sogenannte Gegenbeweis ist der Geschädigte – was seinen Zahlungsanspruch betrifft – damit fast am Ziel. Fast deshalb, denn er muss noch die sogenannte Betriebsgefahr, die von seinem Fahrzeug ausgeht, „überwinden“. Im Straßenverkehr wird allein durch die Verwendung eines Kraftfahrzeuges eine Gefahrenquelle eröffnet: Die allgemeine Betriebsgefahr. Sie ist Ausfluss des Prinzips der sogenannten Gefährdungshaftung, wonach im Straßenverkehr auch ohne Verschulden, also verschuldensunabhängig, gehaftet werden kann, allein deshalb, weil man am Straßenverkehr teilnimmt.
Die „normale“ Betriebsgefahr wird in der Regel mit einem prozentualen Anteil von 20 - 25 % (des begehrten Schadenersatzes) in Ansatz gebracht. Kann ein Unfallhergang einmal gar nicht aufgeklärt werden, beläuft sich diese, wenn zwei „gleich gefährliche PKW“ an dem Unfall beteiligt sind, auch einmal auf 50 % oder in bestimmten Fallgestaltungen – ohne Verschulden – auch bis auf 100 % (z. B. Herzanfall des Fahrzeugführers; Defekte am Fahrzeug).
Auch wenn gelegentlich Gerichte allein bei Vorliegen eines Anscheinsbeweises schon eine volle Haftung (100 %) des anderen Unfallbeteiligten annehmen, wäre es auch eigentlich Sache des durch Anscheinsbeweis Begünstigen auch bzw. zusätzlich darzulegen und zu beweisen, dass den anderen entweder ein besonders grober Verkehrsverstoß trifft oder der Unfall selbst von dem in der Rechtsprechung entwickelten „übermenschlichen“ Idealfahrer nicht hätte abgewendet werden können.
Was ist ein Idealfahrer? Der Idealfahrer ist der, der sich stets verkehrsgerecht verhält und optimal vorausschauend im Straßenverkehr unterwegs ist, weshalb dieser gar nicht erst in Gefahrensituationen kommt, in denen er sich dann vielleicht nicht richtig (z. B. durch Fehl- oder Überreaktion) verhält.
Erst wenn eine der vorgenannten Alternativen zur Überzeugung des Gerichts feststeht, tritt die Betriebsgefahr vollständig zurück und der „rechnerische Abzug“ von 20 - 25 % (für die Betriebsgefahr des eigenen Fahrzeugs) entfällt. Ergebnis: 100 % bei der Haftung dem Grunde nach.
Wie schwer wiegen Verkehrsverstöße? Dass die Betriebsgefahr trotz Annahme eines Anscheinsbeweises nicht automatisch zurücktritt folgt auch aus dem Abwägungsgebot des § 17 StVG (Straßenverkehrsgesetz). Nach dieser Bestimmung sind im Regelfall die Verursachungsbeiträge der Unfallbeteiligten (Fahrzeughalter) gegeneinander abzuwägen. Im Rahmen dieser Abwägung dürfen nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs aber nur Umstände eingestellt werden, die tatsächlich festgestellt sind, also nicht nur (wie beim Anscheinsbeweis) vermutet werden. Als festgestellt gelten Umstände oder Tatsachen, die (vom Unfallgegner) zugestanden, unstreitig oder nach durchgeführter Beweisaufnahme bewiesen wurden.
Hat in anderen Unfallkonstellationen ein Unfallbeteiligter diesen oder jenen Verkehrsverstoß begangen und treffen auch den anderen Unfallbeteiligten Verkehrsverstöße, wird auf Grundlage der vorgenannten Bestimmung im StVG abgewogen – wie auf einer Waage. Wie schwer wiegen Verkehrsverstöße auf der einen Seite und wie schwer auf der anderen Seite? Als Ergebnis errechnet sich – sofern richtig „gerechnet“ wurde – die Haftungsquote, nach der sich dann der Zahlungsanspruch bemisst.
Tipp: Sofern es der Beweisführung dient und möglich ist, fertigen Sie ein paar schnelle Fotos mit dem Smartphone, um Unfallendstellungen von beteiligten Fahrzeugen zu dokumentieren oder – mit Kreide – Radpositionen zu markieren, bevor die Unfallstelle geräumt wird und Fahrzeuge „an die Seite“ gefahren werden. Dies kann manchmal hilfreich sein.